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Gemeinsame Sicherheits- & Verteidigungspolitik

The Flag of Europe on military uniform. Collage.

Mit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine tobt in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU zum ersten Mal seit ihrer Gründung ein Krieg zwischen zwei Staaten. Vor diesem Hintergrund hat sich der Rahmen, in dem europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestaltet werden muss, mit dem 24. Februar 2022 radikal verändert.

Konventionelle und nukleare Bedrohungsszenarien, von denen viele glaubten, dass sie nach 1989 – zumindest – in Europa dauerhaft der Vergangenheit angehörten, scheinen mit einem Male aktueller denn je.

Während lange die Meinung vorherrschte, dass sich das gemeinsame Europa in einer veränderten Welt im militärischen Bereich auf internationales Krisenmanagement konzentrieren kann, zeigt sich nun, dass die Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung von zentraler Bedeutung bleibt. Die aktuelle Entwicklung befeuert überdies den Rüstungswettlauf auf allen Ebenen.

Die Europäische Union hat auf die russische Invasion mit den weitestreichenden Sanktionsbeschlüssen in ihrer Geschichte und der Gewährung massiver Militärhilfe an die Ukraine reagiert. Mit Blick auf die Stärkung der eigenen militärischen Kapazitäten gibt es vorerst aber nur Auf- und Nachrüstungsankündigungen auf einzelstaatlicher Ebene. Damit besteht ein massives Risiko, dass nun jeder EU-Staat unkoordiniert seine Verteidigungskapazitäten erhöht und die – schon bisher festzustellende – Ressourcenvergeudung durch 27 nationale Einzelarmeen weiter fortgesetzt wird.

Das Ziel: Die GSVP weiterentwickeln zur Verteidigungsunion 

Im Zeichen der neuen Herausforderungen besteht die Chance, aber auch die Notwendigkeit zu einer grundlegenden Neugestaltung der EU-Sicherheitspolitik, mit dem Ziel, die Europäische Union, wie schon seit dem Vertrag von Maastricht von 1993 angedacht, in Richtung europäische Verteidigungsunion weiterzuentwickeln.

Die österreichische Bundesregierung hat schon 1992 – im Rahmen des österreichischen Beitrittsprozesses – in einem Aide-Mémoire an alle damaligen EU-Staaten festgehalten, dass sich Österreich bewusst ist, dass „seine nationale Sicherheit mit der Sicherheit in Europa und von Europa untrennbar verbunden ist“, und hinzugefügt: „Die Entwicklung wirksamer Instrumentarien für die Abhaltung und Sanktionierung von Aggressionen und Rechtsverletzungen liegt im vitalen eigenen Sicherheitsinteresse Österreichs.“ Diese Feststellung ist heute aktueller denn je. Deshalb ist es auch vordringlich, Antworten auf eine Reihe von Grundsatzfragen zur europäischen Verteidigungspolitik zu finden.

Grundsatzfragen auf dem Weg zu einer EU-Verteidigungsunion

GSVP – wozu?

Dass das gemeinsame Europa eine erweiterte gemeinsame Verteidigungsfähigkeit benötigt, um das Zusammenleben auf unserem Kontinent auf der Basis gemeinsamer Werte innerhalb gesicherter EU-Außengrenzen gewährleisten zu können, steht gerade auch im Lichte der dramatischen Ereignisse in der Ukraine heute wohl außer Zweifel. Militärische Kapazitäten mit politischer Einsatzbereitschaft und realer Einsatzfähigkeit sind unabdingbar zur Abschreckung und Verhinderung von Erpressbarkeit gegenüber Mächten, die bereit sind, politische Ziele auch mit militärischen Mitteln gewaltsam durchzusetzen.

Wie für die meisten politischen Bereiche gilt auch für eine wirksame GSVP, dass eine Bündelung der militärischen Kapazitäten effektiver und ökonomischer ist als 27 nationalstaatliche Armeen. Erst eine politisch und militärisch integrierte GSVP verschafft Europa die Chance auf Sicherheit, solidarisch und mit gerechter Lastenteilung.

Kooperative globale Sicherheitspolitik

Gerade im Angesicht wachsender Rivalitäten zwischen den großen Militärmächten und des offensichtlichen Bestrebens, regionale Einflusssphären militärisch abzusichern, bleibt ein effektiver Multilateralismus, der auf festen internationalen Regeln aufbaut – trotz aller Rückschläge der jüngeren Vergangenheit – ein zentrales Ziel der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Das gilt v.a. auch für die Bereiche Rüstungsbeschränkung/Abrüstung und Konfliktprävention. Militärisches Vorgehen sollte auch weiterhin nur gewählt werden, wenn es keine Alternative gibt.

Im Einklang mit den entsprechenden Festlegungen im EUV und der Globalen Strategie der EU muss der sicherheitspolitische Ansatz der Union überdies ein umfassender bleiben, mit allen seinen nichtmilitärischen, wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Instrumenten. Als „letztes Mittel“ bleiben eigene militärische Kapazitäten für die EU jedoch unabdingbar.

Arbeitsteilung NATO – GSVP

Offenkundig ist zugleich, dass die transatlantische Partnerschaft für die Sicherheit Europas unverzichtbar bleibt. Die zentrale Bedeutung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit den USA (wie auch mit Großbritannien) ist im Gefolge des russischen Angriffs auf die Ukraine deutlich sichtbar geworden.

Außer Frage steht dabei, dass die NATO – seit dem 24. Februar 2022 noch stärker als bisher – das Fundament der kollektiven Verteidigung ihrer Mitglieder bildet und damit auch der wichtigste Garant für die Verteidigung der Außengrenzen der Union bleibt. Der Umstand, dass unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine nun auch in den – bisher bündnisfreien – EU-Mitgliedern Finnland und Schweden die Frage eines NATO-Beitritts auf der Tagesordnung steht, unterstreicht dies zusätzlich.

Trotzdem ist davon auszugehen, dass die Sicherung der EU-Außengrenze zunehmend in die Eigenverantwortung der Europäer fallen wird. Im Lichte der Erfahrungen der letzten Jahre muss das gemeinsame Europa überdies auf die Möglichkeit vorbereitet sein, dass sich eine künftige US-Administration der transatlantischen Zusammenarbeit im Geiste einer „America first“-Politik weniger stark verpflichtet fühlt als die derzeitige. Das erfordert mehr EU/GSVP-Autonomie und Eigenverantwortung, ebenso aber die Möglichkeit des Rückgriffs auf militärische Kapazitäten der EU-NATO-Staaten auch aufgrund von GSVP-Entscheidungen. Nur so kann die Duplizierung militärischer Kapazitäten vermieden werden.

Europäische Kapazitäten/EU-Beistandspflicht/EU-Armee

Zugleich muss die EU bestrebt sein, die Interoperabilität der Armeen ihrer 27 Mitgliedsländer – auf der Basis der im NATO-Rahmen entwickelten Kriterien und Instrumente – weiter zu stärken, wozu gemeinsame Planung, Ausrüstung und Logistik, das Pooling und Sharing nationaler militärischer Kapazitäten sowie der Ausbau zusätzlicher autonomer Planungs- und Kommandostrukturen entscheidend beitragen können.

Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit/Permanent Structured Cooperation (PESCO) bietet im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bereits seit 2017 einen politischen Rahmen, der angesichts der bestehenden Herausforderungen noch viel dynamischer als bisher genützt werden sollte, insbesondere auch zur Stärkung der militärischen Mobilität und für strategische Rüstungsprojekte, für die im (von der Europäischen Kommission verwalteten) Europäischen Verteidigungsfonds nunmehr auch ein gemeinsames europäisches Finanzierungsinstrument zur Verfügung steht.

Ein Bereich, der sich schon jetzt, wiederum unter Berücksichtigung von NATO-Interoperabilitätskriterien, für eine sehr weitgehende europäische Integration eignet, ist der Bereich der Luftraumsicherung und -überwachung.

Die – von den EU-Außen- und Verteidigungsministern im März 2022 beschlossene – Schaffung einer EU-Eingreiftruppe mit bis zu 5000 Soldaten, die bis spätestens 2025 einsatzbereit sein soll, ist potentiell ein weiterer wichtiger Schritt zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU im Krisenmanagement. Voraussetzung dafür, dass sich diese Truppe als wirksameres Instrument erweist als die bisherigen „Battle Groups“ (die in der Praxis noch nie zum Einsatz gekommen sind), ist allerdings, dass über deren Einsatz tatsächlich, wie geplant, flexibler als bisher entschieden werden kann und die beteiligten militärischen Verbände regelmäßig gemeinsam üben.

Unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine gewinnt auch die in Artikel 42 (7) EUV verankerte EU-Beistandspflicht im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaates neues Gewicht. De facto handelt es sich dabei vorerst aber nur um eine programmatische Erklärung, die einer Konkretisierung bedarf, insbesondere im Hinblick auf die Kooperation zwischen verbündeten und neutralen/bündnisfreien EU-Mitgliedern.

All dies sind Schritte, die in Richtung einer EU-Verteidigungsunion weisen. Eine EU-Armee im vollen Sinne dieses Wortes würde aber vor allem bei Krisen eine zentrale EU-Willensbildung sowie eine politisch und militärisch entscheidungsfähige europäische Befehlskette voraussetzen. Damit ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Die gezielte Stärkung der Interoperabilität der 27 Armeen trägt aber wesentlich dazu bei, die operationellen Voraussetzungen zu schaffen, dass militärisch gemeinsam gehandelt werden kann, sobald hierfür die politische Bereitschaft bzw. die akute Notwendigkeit gegeben ist.

Langfristiges Ziel der europäischen Sicherheitspolitik sollte dennoch die Schaffung einer gemeinsamen EU-Armee bleiben; eine solche Entwicklung würde eine grundsätzliche Neuorientierung auch der österreichischen Sicherheitspolitik erfordern.

Die Rolle Österreichs in der GSVP

Aus Anlass seines EU-Beitritts hat Österreich – wie auch Finnland und Schweden – förmlich zugesagt, dass es die erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen wird, um sich als EU-Mitglied in vollem Umfang und aktiv an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU beteiligen zu können. In diesem Sinne hat Österreich 1998 mit dem nunmehrigen Art. 23j B-VG verfassungsrechtlich sichergestellt, dass es an allen Maßnahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich militärischer Operationen im vollen – im EUV vorgesehenen – Spektrum mitwirken kann. Damit ist seit fast 25 Jahren rechtlich gewährleistet, dass dort, wo Österreich GASP-Beschlüsse umsetzt und die entsprechenden Maßnahmen mitträgt, europäische Solidarität Vorrang vor klassischem Neutralitätsrecht hat.

Für die in den vergangenen Wochen verschiedentlich geäußerten Zweifel, ob denn die Teilnahme Österreichs an einer möglichen Eingreiftruppe oder die Gewährung von österreichischen Transitgenehmigungen für EU-Militärhilfe an die Ukraine überhaupt „mit der Neutralität vereinbar“ sei, gibt es daher keine verfassungsrechtliche Basis. Österreich kann sich ebenso an den anderen – bereits angesprochenen – prioritären Vorhaben im Bereich der GSVP, insbesondere an eine weiter intensivierte PESCO-Mitwirkung, auf der erwähnten rechtlichen Basis beteiligen und sollte dies im eigenen sicherheitspolitischen Interesse mit dem Ziel einer Nutzung europäischer Synergien auch tun.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die – im Zeichen der aktuellen Entwicklungen verstärkt auf Interesse stoßende – EU-Beistandsverpflichtung gemäß Art. 42 (7) EUV. Die in dieser Bestimmung enthaltene sogenannte „irische Klausel“ gewährleistet, dass Österreich als neutrales Land im Beistandsfall selbst entscheiden kann, in welcher Form es einem bedrohten EU-Partner Hilfe leistet. Es muss keinen militärischen Beistand leisten, kann sich aber aus freien Stücken dazu entschließen. In der Erklärung von Versailles haben die Staats- und Regierungschefs der EU im März 2022 betont, dass in dieser Bestimmung „die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ ihren Ausdruck finde. Solidarität kann keine Einbahnstraße sein. Österreich sollte daher in der Lage sein, in Erfüllung seiner Verpflichtungen gemäß Art. 42 (7), wenn es sich dazu entscheidet, gegebenenfalls auch einen militärischen Beitrag zu leisten.

Hierfür – aber auch für die Mitwirkung am vollen Spektrum der Aufgaben des EU-Krisenmanagements (einschließlich der Beteiligung an der geplanten EU-Eingreiftruppe) – müsste das Österreichische Bundesheer, wie schon von der BH-Reformkommission im Jahr 2004 empfohlen, jedoch in erheblich stärkerem Umfang als bisher über geeignete – voll interoperable – Kaderpräsenzverbände verfügen. Der Aufbau dieser im GASP-Rahmen einsetzbaren militärischen Kapazitäten sollte daher eine wesentliche Priorität der laufenden Bemühungen zur Stärkung des Bundesheeres sein.

Abschließende Empfehlungen

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Bedeutung einer wirksamen kollektiven Verteidigung Europas unterstrichen, deren Fundament für die absehbare Zukunft die NATO bleibt. Zugleich ist es im Lichte des Kriegs aber auch von zentraler Bedeutung, dass die EU ihre autonome verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit stärkt, insbesondere durch:

  • erhöhte Interoperabilität der Armeen der 27 EU-Staaten (unter Berücksichtigung der etablierten NATO-Interoperabilitätskriterien);
  • intensivierte Nutzung der Instrumente der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), mit besonderem Fokus auf militärische Mobilität und strategische Rüstungskooperation;
  • Aufbau der geplanten EU-Eingreiftruppe;
  • Konkretisierung der EU-Beistandsverpflichtung gemäß Art. 42 (7) EUV mit Blick auf die Kooperation zwischen neutralen/bündnisfreien EU-Mitgliedern und EU-Staaten, die auch der NATO angehören.

Österreich sollte sich an diesen Bestrebungen im Einklang mit der geltenden Verfassungslage (insbesondere Art. 23j B-VG) aktiv und solidarisch beteiligen und dafür im Rahmen der Bemühungen zur Stärkung des Bundesheeres auch die erforderlichen operationellen Voraussetzungen schaffen.