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Pflege

Closeup of a support hands

In allen Mitgliedsstaaten der EU nimmt der Bedarf an Langzeitpflege zu. In den nächsten 30 Jahren wird die Anzahl der über 65-jährigen innerhalb der EU um 41 % auf 130,1 Millionen ansteigen. Schätzungen zufolge werden 2030 33,7 Millionen Personen innerhalb der EU-Pflege brauchen, 2019 lag die Zahl bei 30,8 Millionen.

 

Der Rolle der EU im Bereich der Langzeitpflege ist vor allem das Bereitstellen von Expertise und der Transfer von Wissen. Weiters hat die EU die Möglichkeit, Mitgliedsstaaten mittels Empfehlungen im Zuge des Europäischen Semesters auf Versäumnisse im Langzeitpflegebereich aufmerksam zu machen. Zu einem geringeren Teil stellt die EU auch Mittel für die Langzeitpflege zur Verfügung. Diese kommen aus der Aufbau- und Resilienzfazilität, dem Europäischem Fonds für regionale Entwicklung und dem Europäischen Sozialfonds. Was allen Töpfen gemein ist, ist, dass sie nicht explizit der Langzeitpflege gewidmet sind – die Widmung liegt im Entscheidungsspielraum der Mitgliedsstaaten.

 

2021 wurde im Rahmen des Aktionsplans der Europäischen Säule sozialer Rechte das Green Paper on Ageing und, darauf aufbauend, ein Bericht zur Langzeitpflege in der EU veröffentlicht.

 

Vier Herausforderungen, vor denen alle Mitgliedsstatten stehen, werden identifiziert:

  1. Die Sicherstellung eines leistbaren Zugangs zu Langzeitpflege

In manchen Mitgliedsstaaten hat nur ein Zehntel der Menschen mit Pflegebedarf Anspruch auf öffentliche Sach- und/oder Geldleistungen. In anderen Staaten erhalten (fast) alle Personen mit Pflegebedarf öffentliche Leistungen, jedoch reichen die öffentlichen Sach- und Geldleistungen meist nicht aus, um den tatsächlichen Pflegebedarf zu decken.

 

  1. Die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Pflegeversorgung

Die Versorgungsdichte variiert stark zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten. Es gibt aber auch große Unterschiede innerhalb der Länder (Versorgungslücken in ländlichen Gebieten). Die Pflege durch Angehörige ist eine zentrale Säule der Pflegeversorgung in allen Mitgliedsstaaten.

Anstelle von grundlegenden Reformen, die darauf abzielen den Sektor für Arbeitskräfte attraktiver zu machen und bedarfsgerechte Pflege sicherzustellen, tendieren Staaten dazu, die Pflegeleistungen in die Familien oder auf den Markt auszulagern. Dies wird verstärkt durch die Auszahlung von Geldleistungen anstatt der Bereitstellung von Dienstleistungen.

 

  1. Die Gewinnung und das Halten von Pflegepersonen

Innerhalb der EU arbeiten 6,4 Millionen Personen in der Langzeitpflege. Bereits jetzt ist der Personalbedarf größer als das Angebot. Für 2030 ist innerhalb der EU mit 7 Millionen offenen Stellen für Pflegepersonen zu rechnen. Als kurzfristige Möglichkeit, um den Personalbedarf zu decken, wird im Green Paper die Migration von qualifizierten Pflegekräften aus Drittstaaten angeführt. Um diese zu erleichtern, werden nationale Gesetze angepasst.

Die Pflegeleistungen, die über den Markt angeboten werden – meist handelt es sich dabei um Live-in Care – sind oftmals mit prekären Arbeitsbedingungen verbunden. Die niedrige Bezahlung und die schlechten Rahmenbedingungen machen die Tätigkeiten für heimische Arbeitskräfte unattraktiv, weshalb vorrangig MigrantInnen die Leistungen erbringen. Wenn zusätzlich die Aufenthaltsberechtigung an ein Arbeitsverhältnis gebunden ist, bleibt den MigrantInnen kaum Spielraum. Sie müssen schlechte Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechtverletzungen akzeptieren, um im Land bleiben zu dürfen.

Die Migration von PflegerInnen hat auch Auswirkungen auf die Ursprungsländer. Die Migration in ein wohlhabenderes Land stellt eine Möglichkeit für bezahlte Arbeit dar. Die Einnahmen ermöglichen es, die Familie zu versorgen. Die Betreuung und Erziehung der eigenen Kinder und die Pflege der eigenen Angehörigen müssen von anderen erbracht werden. Man spricht hier von Fürsorgeketten (Care Chains). Die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Pflegemigration in den entsendenden Ländern werden politisch kaum bedacht und, wenn überhaupt, durch Hilfsorganisationen und Projekte im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit abgefedert.

 

  1. Die Finanzierung der Langzeitpflege in Anbetracht des steigenden Bedarfs

Der Anteil des BIPs, der in die Langzeitpflege investiert wird, unterscheidet sich stark zwischen den Mitgliedsstaaten: Skandinavische Länder und Niederlande mindestens 3,5% des BIPs; Deutschland 2%, Österreich 1,5%; Polen und Ungarn ca. 0,5%. Eine Darstellung der Langzeitpflege als reiner Kostenfaktor ist aber sachlich falsch. Der EU-Langzeitpflege-Bericht weist darauf hin, dass der steigende Pflegebedarf ein Jobmotor für Europa sein kann.

Zahlen von Eurostat aus dem Jahr 2018 belegen: Vom Ausbruch der Finanzkrise bis 2017 ist die Beschäftigung im EU-Durchschnitt um 1,36 % gestiegen, im Sozialbereich kam es zu einem Anstieg um 16%. Zudem fließen Ausgaben für die Langzeitpflege über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge wieder an die öffentliche Hand zurück (in Österreich 70%).

Angesichts der prekären Finanzierungslage der Pflege verwundert es, dass die Profite gewinnorientierter Konzerne im Pflegebereich in den letzten Jahren zugenommen haben. Die EU-Staaten zahlen jährlich 220 Mrd. Euro an Betreiber von Pflegeheimen. Ein immer größerer Anteil fließt in gewinnorientierte Konzerne. 2020 betrug der operative Gewinn des größten Konzerns, der Orpea Group, 926,5 Millionen Euro. Orpea ist in 14 EU-Ländern tätig und kommt auf 111.000 Betten in Europa. Die EU kann hier derzeit nur bedingt Einfluss nehmen. Die Beauftragung von Trägern mit der Erbringung von Langzeitpflegeleistungen erfolgt nach unterschiedlichen Vorgaben in den Mitgliedstaaten.

Zielperspektive: Langzeitpflege als Teil der europäischen Säule sozialer Rechte

Die Europäische Säule sozialer Rechte umfasst auch die Langzeitpflege. Grundsatz 18 besagt: „Jede Person hat das Recht auf bezahlbare und hochwertige Langzeitpflege, insbesondere häusliche Pflege und wohnortnahe Dienstleistungen.“

Konkrete Maßnahmen und Initiativen zur Erreichung von Grundsatz 18 sind im Aktionsplan der Europäischen Säule sozialer Rechte angeführt. Ein wichtiges Vorhaben ist es, zwei Indikatoren zur Langzeitpflege in das Social Scoreboard aufzunehmen: a) prozentuelle Anteil der Sozialausgaben am BIP, b) Grad, zu dem der Langzeitpflegebedarf in einem Mitgliedsstaat gedeckt ist.

Für 2022 hat die Europäische Kommission im Zusammenhang mit dem Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte eine Initiative zur Langzeitpflege in der EU angekündigt. Ziel ist es, einen Rahmen für politische Reformen im Langzeitpflegebereich zu schaffen. Erste Ankündigungen lassen darauf schließen, dass es sich bei der Initiative um die Entwicklung von Qualitätsstandards handeln soll. Sinnvoll aufzunehmen wären auch die Verbesserung der Datenlage, best practices sowie ein Maßnahmenkatalog, an denen sich Mitgliedsstaaten orientieren können.

Der Einfluss der EU auf die Personalsituation im Pflegebereich ist indirekt. Laut der Kommission tragen verschiedene Richtlinien zu einer Verbesserung der Arbeitssituation von Pflegekräften bei (z.B. Arbeitszeitrichtlinie, geplante Mindestlohnrichtlinie).

In der Europäischen Säule sozialer Rechte wird nicht auf die rechtliche Situation von im Haushalt lebenden Pflegekräften eingegangen – ein Versäumnis, das der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss 2016 scharf kritisierte. Trotz der Kritik fand das Thema auch kaum Einzug in den aktuellen Bericht zur Langzeitpflege. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat 2016 eine Initiativstellungnahme zu den Rechten von im Haushalt lebenden Pflegekräften herausgegeben, in der eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen werden (u.a. rechtliche Regelung der häuslichen Pflege in allen Mitgliedsstaaten, Sanktionen für ArbeitgeberInnen, die Pflegekräfte nicht anmelden, Gründung von Organisationen zur Unterstützung von im Haushalt lebenden Pflegekräften).